Springerin. Hefte für Gegenwartskunst 02/2021

TitelSpringerin. Hefte für Gegenwartskunst 02/2021
TypBuch
Jahr2021
AutorenWeier Sabine, Seyerl Barbara, Schöni Roland, Höller Christian, Sumi Denise Helene, Deliss Clementine, Karpenko Anna, Shparaga Olga und Arsenijević Damir
VerlagFolio Verlag
OrtWien
ISBN Number978-3-9504978-0-9
ISBN1029-1830
SchlagwörterBeyond States, INVOCATION FOR HOPE, Jura Shust, SAVVY Berlin, Sergey Shabohin, Superflux, Wiener Medienkunstfestival CIVA, Yves Netzhammer, Zeitschrift
Zusammenfassung

Spaltung, wohin man blickt. Aber ebenso der Wunsch, neue Formen der Solidarisierung und des sozialen Ausgleichs zu etablieren. So könnte man das bestimmende politisch-kulturelle Szenario der letzten Jahre zusammenfassen, das sich im Zeichen der Pandemie noch weiter zugespitzt hat. Hier der nicht von der Hand zu weisende Befund, dass sich Gegensätze, egal, welchen Zuschnitts, im Kontext des pandemischen Ausnahmezustands tendenziell noch verstärken. Dort die vor allem von künstlerischer und intellektueller Seite erhobene Forderung, das Verbindende und Gemeinsame, das quer durch alle Klassen- und sonstige Identitätslagen wirksam sein soll, stärker in den Fokus zu rücken.
Dabei ist gerade die Art von Gegenüberstellung zwischen Separation und Versöhnung nicht so einfach, wie sie auf Anhieb erscheint. Zu viel wird häufig in die angebliche Polarisierung der Gesellschaft hineinprojiziert, zu viel durch bekannte Social-Media-Dynamiken unverhältnismäßig aufgebauscht. Aber auch auf der Gegenseite sind die Dinge oft weniger eindeutig, als sie vorderhand scheinen: Viel zu uneinheitlich, ja inkommensurabel sind vielerlei Partikularansprüche inzwischen geworden, als dass ihnen mit dem mutmaßlichen Allheilmittel einer universellen Solidarisierung beizukommen wäre. Euer "wir" könnt ihr haben - aber bitte ohne "uns".
Ein Ausweg, der sich hier anbietet, ist, nicht über Identitäten und Subjekte, sondern über Objekte - trennende wie verbindende - zu reflektieren. Genauer gesagt: über Gegenstände, die als Gegenstände (und nicht schon als fertige Identitätsmarker) von politischen und kulturellen Projektionen wie auch Gegenprojektionen erzählen. Von Mechanismen des Ein- und Ausschlusses, die im gegenwärtigen Umbruch von Ökologie und Ökonomie, im transnationalen technologischen Wandel, aber auch im Ansatz einer zunehmend nationalistischen Identitätspolitik zentral zum Tragen kommen. In diesem Zusammenhang werden Dinge häufig zu Kristallisationspunkten des "Eigenen" ebenso wie des "Anderen", ja zu Stellvertretern für mitunter essenzielle Annahmen über diese vermeintlich klaren Gegebenheiten.
Die vorliegende Ausgabe nimmt genau diese Gemengelage in den Blick. Entstanden ist sie in Anlehnung an das Ausstellungsprojekt Dinge, die wir voneinander ahnen, das von tranzit.at gemeinsam mit dem Badischen Kunstverein, Karlsruhe realisiert wurde. Es geht dabei um Dinge, die - je nachdem, wer sie interpretiert, für sich reklamiert oder gegen ihren vorgesehenen Zweck verwendet - verschiedene, oft gegensätzliche Attribute offenbaren. Dinge, die je nach Inanspruchnahme semantisch unterschiedlichst aufgeladen werden und, obwohl sie dieselben sind, geradezu gegenläufige Bedeutungen annehmen können.
Ob Alltagsgegenstände, Kunstwerke, politische Symbole, Kryptogramme, Gesten, Pflanzen oder Kleidungsstücke - sie alle treten uns häufig als "Shapeshifter" entgegen, die nicht nur in einen Verhandlungshorizont eingebunden sind, sondern ihren Bedeutungsgehalt oft auch verändern können. Aber was befähigt ein Objekt zur Repräsentation eines bestimmten kulturellen Komplexes, und was verrät seine Materialität? Wie und wie weit färben der Diskurs und die Einordnung dieser Materialität unsere Wahrnehmung? Haben diese Objekte nicht auch das Potenzial, als antagonistische, zugleich auch vermittelnde und potenziell versöhnende Werkzeuge im Dialog zwischen vielfältigen gesellschaftlichen und kulturellen Konstellationen zu agieren?
Das Heft macht entlang von künstlerischen und diskursiven Fallstudien die problematische und konfliktgeladene Stellung solcher Dinge sichtbar und lotet gleichzeitig das transformative Potenzial einer in Objekten verkörperten Geschichte aus. Roger Buergel und Sophia Prinz etwa problematisieren am Beispiel der 3.000 Jahre alten Basaltgöttin, einer ursprünglich aus Nordsyrien stammenden Skulptur, welch diverse und widerstreitende Zuschreibungen ein (nicht-europäisches) Artefakt über Epochen hinweg erfahren kann. Von hier aus ist es nicht weit zu Debatten über Provenienz und unrechtmäßigen Besitz - Anlass für Clémentine Deliss, um ihrenBeitrag über die "metabolische" Funktion heutiger Museen zu reflektieren: Gemeint ist die Art von einzelinstitutioneller Vereinnahmung, die Objekte, an denen alle gleichermaßen Anteil haben sollten, zu exklusiven Vermarktungsgegenständen macht.
Um dem entgegenzuwirken, braucht es imaginative, jeden engeren Verwertungsrahmen sprengende Projekte, wie die hier vertretenen Arbeiten zeigen: Egal, ob die an den historischen Konstruktivismus angelehnte Balkongalerie der ZIP Group, der Transport von Wasser aus dem Schwarzen Meer quer durch Europa (Aleksei Taruts und Serhiy Klymko) oder Susanne Kriemanns grafisch-fotografische Recherche über die Abholzung rumänischer Wälder für die Billigmöbelindustrie - sie alle künden von uneindeutigen Objektkonfigurationen, in denen stets auch ein differenzielles Widerstreitmoment am Werk ist. Dies unterstreichen auch die Beiträge über die beiden belarussischen Künstler Jura Shust und Sergey Shabohin, deren Werke die Notwendigkeit transformativen Kunstdenkens gerade im Kontext eines totalitär-repressiven Systems aufzeigen.
Essays von Ovidiu Tichindeleanu (über das Imaginäre der Überschallrakete im ehemaligen Ostblock), Celine Wawruschka (über das unterschiedlich besetzte Ritual der Sonnwendfeier) und Damir Arsenijevic (über das reale gegenwärtige Elend von in Bosnien gestrandeten Migrant*innen) ergänzen das Spektrum. Auf unterschiedliche Weise konkretisiert sich darin das Fremde, Verstörende oder Unheimliche, das Unbewusste sowie der widersprüchliche Raum, den die "Dinge, die uns trennen", besetzen. Nicht zuletzt werden so divergente Perspektiven auf ein emanzipatorisch und demokratisch gedachtes Europa entworfen, das an den Rändern (wie auch im Zentrum) immer mehr zu korrodieren scheint. Aber hinter dessen Spaltungstendenzen immer auch Ansätze eines neuen Zusammenlebens durchschimmern.

Signatur

Z Springerin 02/2021